"Verbrechen an der Menschlichkeit" – Renommierter Wissenschaftler warnt vor Transhumanismus
von Tilo Gräser
Transhumanismus – für die einen bedeutet das die Zukunft der Menschen, die mit Hilfe der Biotechnologie optimiert werden. Für die anderen ist es eine Schreckensvision, die den Menschen entmenschlicht. Die biotechnologische Optimierung scheint bereits in Gang gekommen zu sein. Diese Entwicklung ist Ausdruck der zugespitzten Gläubigkeit an die Technologie als Allheilmittel, bei der das dafür notwendige natürliche Maß verloren ging.
Das bewegt den Pathophysiologen und Weltraummediziner Karl Hecht, der vor den Folgen warnt. Er hat dazu eine klare Position:
"Ich empfinde das als eine perverse, schreckliche Tendenz, die eigentlich Menschen grundsätzlich ablehnen müssten."
Und er warnt: "Transhumanismus ist das Ende des Homo sapiens!"
Der heute 97-jährige Wissenschaftler und Arzt hat als Professor für Neuro- und Pathophysiologie an der Berliner Charité gearbeitet – "wissenschaftlich und medizinisch", was heute selten sei, wie er betont. Er hat sich mit Stress-, Schlaf-, Chrono-, Umwelt-, Weltraummedizin, Neuropsychobiologie und Neurowissenschaften beschäftigt. Hecht ist unter anderem Mitglied der Russischen Akademie der medizinischen Wissenschaften sowie der International Academy of Astronautics in Paris.
Bis heute ist er aktiv, beschäftigt sich mit medizinischen und gesellschaftlichen Problemen und versucht, sich einzumischen und aufzuklären. Das macht er auch bei der Frage, wohin der Mensch und die Menschheit insgesamt sich entwickeln. Bei einem Gespräch Anfang September in Berlin-Köpenick, wo er wohnt, hat er seine Position genauer erklärt.
Ende der Menschlichkeit
Seinen Ausgangspunkt beschreibt er so: "Ich fühle mich an den Hippokratischen Eid gebunden und an die Genfer Deklaration des Ärztebundes vom Jahre 2017, ganz streng. Da ist der letzte Satz von Bedeutung: 'Ich werde meine Patienten richtig informieren.' Das ist eben heute leider nicht der Fall."
Zu den Transhumanisten und deren Versprechen für eine optimierte Zukunft sagt er: "Die haben alle möglichen Argumente, dass man den Geist erweitern könne, dass das der Gesundheit diene. Das sind alles falsche Versprechungen." Die Tendenz, den Menschen zu technisieren, und Pläne, ihm gar Chips ins Gehirn einzupflanzen, bezeichnet der Arzt als "Genozid": "Das heißt das Ende der Menschlichkeit und der Menschen."
Transhumanismus spielt auch in den Debatten um die Corona-Krise eine Rolle. Dafür sorgen gewisse Vorstellungen des Weltwirtschaftsforums (WEF) in Davos. Dort wird unter anderem über "Human Enhancement" – über "menschliche Verbesserung" – diskutiert. Das reicht von der "4. Industriellen Revolution", von der WEF-Gründer Klaus Schwab spricht und schreibt, bis hin zur Verlängerung der biologischen Lebenszeit mittels Biotechnologie.
Hecht hält die technologische "menschliche Verbesserung" für "Nonsens" und fügt hinzu: "Dazu brauchen wir keine Technik." Um das Leben der Menschen zu verbessern, sei nur "eine naturgemäße Lebenskultur" notwendig. Zu dieser gehören für den Wissenschaftler die Förderung des Geistes "und eben Naturverbundenheit".
Er zitiert dazu Johann Wolfgang Goethe, der bereits in seinem 1833 posthum erschienenen Werk "Maximen und Reflexionen" feststellte: "Der Mensch an sich selbst, insofern er sich seiner gesunden Sinne bedient, ist der größte und genaueste physikalische Apparat, den es geben kann; und es ist eben das größte Unheil der neueren Physik, dass man die Experimente gleichsam vom Menschen abgesondert hat und bloß in dem, was künstliche Instrumente zeigen, die Natur erkennen, ja was sie leisten kann, dadurch beschränkt und beweist."
Vorstufe Gehirnstimulation
Ein "technisches Hirn" könne beispielsweise das menschliche Hirn und dessen Fähigkeiten nicht nachahmen, ist sich der Neurophysiologe sicher. Im Gespräch verweist er darauf, dass im Gehirn mit seinen 100 Milliarden Nervenzellen und insgesamt 1,6 Kilometer Nervenfasern komplexe Prozesse wie Emotionen in Sekundenbruchteilen ablaufen. "Ein technisches Hirn kann überhaupt keine Emotionen erzeugen", betont Hecht.
Aus seiner Sicht bedeutet die Idee des Transhumanismus, den Menschen als biologisches Wesen zu "roboterisieren". Sein Urteil darüber ist klar und deutlich:
"Das ist ein Verbrechen an dem Menschen, an der Menschlichkeit, überhaupt solche Ideen zu äußern."
Im Gespräch erinnert er an die frühen Versuche im 20. Jahrhundert, mit technischen Mitteln ins menschliche Gehirn einzugreifen. So hätte der Physiologe und Nobelpreisträger Walter Rudolf Hess aus Zürich Experimente zur Gehirnstimulation durchgeführt. Dabei wären Elektroden in ein Katzenhirn oder Rattenhirn gebracht worden und dann mit leichtem Strom Erregungen, also Emotionen, ausgelöst worden.
"Das war eine Ära, die habe ich auch noch mitgemacht", so Hecht. Er habe miterlebt, wie die Hirnstimulation klinisch eingesetzt wurde. Das sei in Leningrad, dem heutigen Sankt Petersburg, gewesen, wo die Neurophysiologin Natalja Bechterewa an entsprechenden Therapien bei Hirnschädigungen gearbeitet habe. Die Enkelin des bekannten Wissenschaftlers Wladimir Bechterew hat laut Hecht versucht, mit Gehirnstimulation vor allem Menschen mit Epilepsie infolge von Kriegsverletzungen im Hirn oder mit Parkinson zu helfen.
"So konnten sie die Anfälle verhindern. Bei den Epileptikern hat das einigermaßen geklappt, bei denen mit Parkinson, die diese Zitterbewegungen haben, nicht. Aber man hat das versucht. Das waren hochqualifizierte Neurologen, die das ganz gezielt und ganz genau das gemacht haben. Aber durchgesetzt hat sich diese Methode bis heute auch nicht."
Chips im Hirn
Später hätten die Neurowissenschaftler und -mediziner die Finger davon gelassen, betont der Mediziner und ergänzt:
"Wenn heute diese Neuro- oder Biotechniker versprechen, man kann so Gesundheit hervorrufen, man kann das wiederherstellen, dann kann das vielleicht in Einzelfällen klappen, aber grundsätzlich ist das ein vollkommen nicht aufrechtzuerhaltendes Versprechen."
Im Gespräch erinnert er noch an ein weiteres Experiment in dieser Richtung: 1968 habe er auf dem Welt-Physiologen-Kongress in Washington, D.C. einen Vortrag des spanischen Physiologen José Delgado erleben können. Der habe einen Film zu einem umstrittenen Experiment mit einer Affenherde gezeigt, in der es einen aggressiven Leitaffen gab. "Wenn er wütend wurde, nahm er die Pfote ins Maul, schrie und dann ging er auf die schwachen Affen los."
Delgado habe dem Leitaffen einen kleinen Chip ins Gehirn eingepflanzt, der durch elektrische Funkwellen aktiviert werden konnte. Das sei über einen Sender mit einem Hebel geschehen. Dazu seien Affen aus der Herde so dressiert worden, dass sie den Hebel bedienten, wenn das Leittier wieder aggressiv wurde: "Wenn der die Pfote ins Maul nahm, drückte ein Affe auf den Hebel und der wurde lammfromm."
Natürliche Alternative
Delgado habe ähnliche Experimente auch mit Stieren in Spanien durchgeführt, so Hecht. "Da war natürlich die Diskussion da: Wir können mit Funkwellenübertragung Emotionen stimulieren, wir können die Menschen in entsprechender Weise beeinflussen." Der spanische Wissenschaftler, der in den USA arbeitete, veröffentlichte 1970 ein Buch über die Experimente: "Die physikalische Beeinflussung des Geistes" ("The Physical Control of the Mind").
"Da hat er schon alles beschrieben und damals schon die Ansätze gehabt, dass man das Gehirn über Schnittstellen durch Funkwellen kontrollieren kann", erklärt Arzt Hecht. "Alles das ist möglich." Zu den Überlegungen und Forschungen in den letzten Jahren in dieser Richtung sagt er: "Ich habe gerade neuere Informationen bekommen, dass man mit Mikrochips arbeitet, im Nanobereich, und dass man bis 7.000 Implantate dieser Art ins Gehirn bringen kann. Das wird alles hochgefeiert."
Der 97-Jährige lehnt das ab:
"Wir brauchen keinen technischen Einfluss aufs Gehirn. Wir können unser Gehirn entfalten, und ich betone noch einmal, mit einer naturgemäßen Lebenskultur."
Rolle des Waldes
Für ihn ist klar: "Da ist vor allen Dingen der Wald von großer Bedeutung." Im Zusammenhang mit COVID-19 sei diskutiert worden, dass Wald das Immunsystem stärkt. "Das weiß ich aber schon lange", sagt Hecht dazu.
"Die Japaner haben das 'Waldbaden' schon seit 30 Jahren. Es gibt also genug Informationen. Ein oder zwei Stunden im Wald spazieren gehen stärkt das Immunsystem, produziert die Killerzellen in entsprechender Weise. Auf diese Art und Weise kann man sich gesund machen."
Der Wald sei "eigentlich die Natur des Menschen", betont der Arzt. Seine positive Wirkung entstehe durch verschiedene Faktoren, vom Aroma über den Sauerstoff und die Farben bis zur Akustik. Hecht zitiert im Gespräch aus dem Gedicht "Die Wälder schweigen" von Erich Kästner:
"Die Seele wird vom Pflastertreten krumm.
Mit Bäumen kann man wie mit Brüdern reden
und tauscht bei ihnen seine Seele um.
Die Wälder schweigen. Doch sie sind nicht stumm.
Und wer auch kommen mag, sie trösten jeden."
Zur Entmenschlichung zählt Hecht auch den Raubbau an den Wäldern auf der Erde, gegen den er protestiert. Die globalen Waldbestände seien in den letzten zehn Jahren um zehn Prozent reduziert worden, erinnert er. "Keiner fragt, wo der Sauerstoff herkommt. Der Sauerstoff kommt von den Bäumen. Wir brauchen zwei große Bäume über das ganze Jahr für den Sauerstoff-Bedarf. Wenn das weiter so geht, dann geht uns die Luft aus."
Vorläufer Kybernetik
Der Wissenschaftler widerspricht der Annahme, dass der Transhumanismus die Ideen der Kybernetik aufnimmt und fortsetzt, die in den 1940er Jahren entstanden: "Da war die Technik praktisch der Dienstbote des Menschen oder der Menschlichkeit. Heute ist es umgekehrt, heute ist die Technik, ist der Mensch abhängig von der Technik. Und das ist etwas ganz anderes."
Die Biokybernetik habe in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einiges in der Medizin und in der Biologie vorangetrieben, so das systemische Denken. "Das war wichtig, dass man also mit System denken kann." Das sei heute "die Armut der Medizin, dass sie partiell denkt und nicht systemisch", bedauert der Arzt.
Er habe durch die Kybernetik viele chronobiologische Erkenntnisse gewonnen. "Die Kybernetik haben wir genutzt, um neue Erkenntnisse zu finden – und nicht, um den Menschen in irgendeiner Weise zu steuern. Die Mathematiker und Physiker wollten etwas anderes." Darum habe es immer Auseinandersetzungen gegeben, erinnert sich Hecht.
Notwendiger Widerstand
In einem Interview mit der Berliner Zeitung sagte er Ende August: "Ich bin jetzt fast 100 Jahre – ganz ohne Technik." Er benötige nur eine Prothese – ein Hörgerät – und fügte hinzu:
"Ich lehne nicht jede Art von Technik ab. Die Zahnprothese hilft uns, dass wir bis zum Lebensende richtig kauen können. Hörgeräte, wie ich eines habe, helfen uns zu hören. Ansonsten könnte ich Sie überhaupt nicht verstehen. Endo-Prothesen für Gelenke befürworte ich auch."
Der Kommunikationswissenschaftler Claus Eurich schrieb vor 30 Jahren in seinem Buch über "Die Megamaschine – Vom Sturm der Technik auf das Leben und Möglichkeiten des Widerstandes": "Lernen wir zu widerstehen, wenn neben den Human-Prinzipien her Geschichte gemacht wird. Zwar ist Widerstand zunächst immer reaktiv, negierend – trotzdem ist er der einzige Hoffnungsträger für das Offenhalten und potentielle Verwirklichen von geschichtlichen und gesellschaftlichen Alternativen. Es kann heute keine positiven Utopien ohne das Mitdenken von Widerstand geben."
Diesen Widerstand hat der Mediziner und Wissenschaftler Hecht bis heute nicht aufgegeben, in dem er unermüdlich weiter aufklärt, auch wenn er weiß, dass das "außerordentlich schwer" ist. Im Gespräch verweist er auf den Physiker und Technikfolgen-Experten Armin Grunwald sowie dessen Buch "Der unterlegene Mensch. Die Zukunft der Menschheit im Angesicht von Algorithmen, künstlicher Intelligenz und Robotern".
Hecht zitiert aus Grunwalds Buch: "Noch nie in der Geschichte der Menschheit waren die technischen Voraussetzungen für eine totale Diktatur so gut wie heute. Gegen unsere digitalen Überwachungstechnologien war alles, was Hitler, Stalin und Mao zu bieten hatten, nicht mehr als ein Kinderspiel. Und da liegt mir jede Verharmlosung extrem fern."
Möglicher Ausweg
Das ist für den Arzt ein wichtiger Aspekt beim Thema Technologie und Transhumanismus, "dass damit der Mensch nicht nur entmenschlicht wird, sondern dass er unter einer ständigen Kontrolle gehalten und gesteuert werden kann. Also er kann sogar angeregt werden, dass er Menschen tötet. Er kann sogar getötet werden. Das alles ist möglich."
Der 97-Jährige will weiter aufklären und vor den Folgen warnen, auch wenn er immer wieder dafür "Gegenstöße" bekommt, wie er sagt. Die einzige Alternative sieht er in einem Übergang in den sogenannten sechsten Kondratjew-Zyklus. Der soll laut dem Ökonomen Leo A. Nefiodow nach der informationstechnologischen Entwicklung im fünften Zyklus zur psychosozialen Entwicklung der Menschheit führen, mit der Gesundheit im Mittelpunkt.
"Es geht um die ganzheitliche Gesundheit der Menschen", erklärt Hecht – wie schon zuvor gegenüber der Berliner Zeitung.
"Wir müssen die Gesundheit in den Vordergrund stellen, damit auch die Wirtschaft in Zukunft funktionieren kann. Wir dürfen die Natur nicht weiter zerstören, denn auch das wirkt sich auf die Gesundheit aus."
Mit Blick auf die Zukunft stellt er fest: "Entweder gehen wir über in den sechsten Kondratjew oder aber die Menschheit geht zugrunde."
Letzteres möchte der engagierte Wissenschaftler verhindern. "Deshalb kämpfe ich mit meinem reichen Wissen gegen die Unbilden der Technik und Digitalisierung und kläre die Menschen auf", betont er. Das sei ihm wichtig, "damit sie die Bedeutung der Natur für ihre Gesundheit und Lebensqualität erkennen und dass sie ihre geistige Fähigkeit und ihr positives Denken dabei einsetzen".
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