Meinung

Warum sich Erdoğan einen Ausfall gegen Russland erlaubt hat

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan startet einen Angriff gegen die Kurden in Syrien und erhebt gleichzeitig Vorwürfe gegen Russland. Wird die Lage zwischen der Türkei, Iran und Russland wieder kritisch? Davon würden andere Akteure profitieren.
Warum sich Erdoğan einen Ausfall gegen Russland erlaubt hatQuelle: www.globallookpress.com © Christoph Soeder

Von Geworg Mirsajan

"Die Risiken einer regionalen Konfrontation nehmen wieder zu. Wer profitiert davon? Die Vereinigten Staaten." Mit diesen Worten beschreiben Politologen die Hintergründe für eine Reihe harter Aktionen und Äußerungen des türkischen Präsidenten, unter anderem gegenüber Russland. Warum beschuldigt Recep Tayyip Erdoğan Moskau etwas, das es nicht tat, und wozu kann das führen?

Erdoğan ist ein sehr ausdrucksstarker Mann, der sich manchmal sehr undiplomatisch über den Staatschef eines anderen Landes äußern kann. So empfahl er beispielsweise öffentlich, Macron solle "einen Arzt aufsuchen und sein Gehirn untersuchen lassen". Er machte auch die Bemerkung, der Chef des Weißen Hauses, Joseph Biden, schreibe "Geschichte mit seinen blutigen Händen".

Dennoch ist Erdoğan ein sehr vorsichtiger Politiker. Kein einziges Mal hat er sich in den letzten Jahren erlaubt, Russland irgendwie zu kränken. Ganz im Gegenteil, der türkische Präsident pflegte zu sagen, dass Wladimir Putin immer sein Wort hält und eigentlich fast ein Freund Erdoğans ist.

Und neulich ist die Bastion des Verständnisses gefallen. Der türkische Präsident beschuldigte Moskau nicht nur der Verletzung von Vereinbarungen, sondern gar der Nachsicht gegenüber den Terroristen (zu denen für die Türkei die kurdischen Organisationen im Irak und in Syrien gehören).

Kann er nicht lesen?

"Ungeachtet unserer wiederholten Mahnungen an Russland, das sich im Abkommen von Sotschi 2019 verpflichtet hat, den Nordirak und Syrien von Terroristen zu säubern, kann und will Moskau seiner Verpflichtung nicht nachkommen", sagte Erdoğan.

Daher werde die Türkei das Problem selbst lösen. Das heißt, einfach ausgedrückt, sie wird eine militärische Operation durchführen. In der Tat hat diese bereits begonnen.

Eine Aussage, die mehr als merkwürdig ist. Erstens hat Moskau keine Zusagen zum "Nordirak" gemacht. Im Memorandum von Sotschi findet sich nicht einmal das Wort "Irak", da es ausschließlich um Syrien geht.

Was die Verpflichtungen in Bezug auf Syrien anbelangt, so beinhalteten diese die Stationierung von Einheiten der russischen Militärpolizei und des syrischen Grenzdienstes auf der syrischen Seite der syrisch-türkischen Grenze, außerhalb der Operationszone "Die Quelle des Friedens" (d. h. außerhalb der von der Türkei eroberten Zone – Bemerkung von Wsgljad), die "den Abzug der kurdischen Volksverteidigungseinheiten (YPG) und ihrer Bewaffnung 30 Kilometer hinter der syrisch-türkischen Grenze unterstützen werden". Danach sollten "gemeinsame russisch-türkische Patrouillen in einem Bereich von bis zu zehn Kilometern Entfernung von der Grenze, westlich und östlich des Gebiets der Operation 'Quelle des Friedens' mit Ausnahme der Stadt Qamischli" beginnen. Alle diese Verpflichtungen und dies ist zweitens wurden vollständig umgesetzt. Und Erdoğan ist sich dessen sehr wohl bewusst.

Warum also erlaubt sich der türkische Präsident solche Aussagen? Die einzige logische Erklärung ist der Versuch Erdoğans, seine traditionelle Strategie umzusetzen den Einsatz zu erhöhen, um als Ergebnis des anschließenden Kompromisses das "Wenige" zu erhalten.

Er zieht in den Krieg

Die Sache ist die, dass die Türkei eine groß angelegte Operation gegen die Kurden durchführt, offenbar gleichzeitig auf irakischem und syrischem Gebiet. Offiziell wird diese Operation als Reaktion auf den angeblich von kurdischen Kämpfern verübten Terroranschlag in Istanbul dargestellt. In Wirklichkeit, so die Experten, will der türkische Staatschef den kurdischen Gruppen an der türkischen Grenze einen vernichtenden Schlag versetzen und gleichzeitig seine schlechten Umfragewerte im Lande vor den Präsidentschaftswahlen 2023 verbessern.

Die Operation selbst begann mit einem Luftangriff auf die Stellungen eben dieser kurdischen Verbände. "Terroristische Unterstände, Bunker, Höhlen, Tunnel und Lagerhäuser wurden erfolgreich zerstört ... Auch die sogenannten Stabsquartiere terroristischer Organisationen wurden zerstört", sagte der türkische Verteidigungsminister Hulusi Akar. Erdoğan betonte jedoch, er werde es nicht dabei belassen. "Unsere Maßnahmen werden sich nicht nur auf die Luftkampagne beschränken. Wir werden Konsultationen mit unserem Verteidigungsministerium und dem Generalstab führen und dann gemeinsam entscheiden, in welchem Umfang wir unsere Bodentruppen einsetzen müssen", erklärte der türkische Präsident. Das heißt, nicht "ob", sondern "inwieweit". Die Frage einer Bodenoperation ist im Grunde schon entschieden.

In Ankara ist man sich sicher, dass man nicht nur das Richtige tut, sondern auch dem Gesetz entsprechend handelt. "Die Türkei hat das souveräne Recht, eine terroristische Bedrohung zu erkennen und sie zu vernichten, egal woher sie kommt", sagte Erdoğans Sprecher İbrahim Kalın. Doch in Wirklichkeit findet die Operation in einer Region statt, in der sich die Interessen vieler Akteure überschneiden - und die große Mehrheit von ihnen unterstützt Erdoğans Vorgehen nicht nur keineswegs, sondern stellt sich diesem sogar entgegen.

Den Widerstand der EU ignorieren die Türken weitgehend. Aber Washington ist nicht so leicht abzutun denn die USA haben einigen Berichten zufolge eine Position eingenommen, die nicht unbedingt für alle üblich ist.

Das Übliche war der Verrat. "Die USA führten in Syrien einen Einsatz unterließen es aber, sie zu schützen, sowohl bei der vergangenen als auch bei der aktuellen türkischen Operation", erklärt die Politologin und RIAC-Expertin Jelena Suponina der Zeitung Wsgljad. In der Tat hat Washington es versäumt, die Kurden zu schützen und die Türkei zu zwingen, die Operation aufzugeben. Und jetzt ist in einem France24-Bericht von kurdischen Stellungen und einer Atmosphäre der Angst vor den Türken die Rede, die sich mit einer Atmosphäre der Frustration über die Vereinigten Staaten paart.

Allerdings sind die Vereinigten Staaten nach Ansicht einiger Experten diesmal doch bereit, den Kurden materiell zu helfen vor allem mit Raketen. "Im Irak und in Syrien beginnt nach den gestrigen 'belehrenden' Luftangriffen der Türkei etwas Großes zu geschehen, nicht dasselbe wie zuvor. Es weht ein echter östlicher 'Wind of Change'. Und es liegt nicht nur daran, dass die Türkei begonnen hat, militärisches Gerät an die Grenze zu Syrien zu verlegen und sich auf eine groß angelegte Bodenoperation vorzubereiten. Das war ziemlich vorhersehbar und zu erwarten. Von Interesse sind die Kurden sie leisten diesmal einen heftigeren Widerstand, als ob sie von jemandem (und wir können uns denken, von wem) unterstützt würden", schreibt Wladimir Awatkow, Leiter der Abteilung für den Mittleren und Postsowjetischen Osten der Russischen Akademie der Wissenschaften und Professor an der Diplomatischen Akademie des russischen Außenministeriums.

Womöglich liegt der Grund für die härtere Gangart der USA darin, dass sie nicht gewillt sind, ihre Position in Syrien aufzugeben. Eine andere Erklärung könnte sein, dass die Vereinigten Staaten an einem Regimewechsel in der Türkei interessiert sind (diesmal durch Wahlen im Juli 2023) und erwarten, dass die türkische Armee in einen langen Krieg gegen die Kurden verwickelt wird.

Falscher Ton

Allem Anschein nach hat Ankara die neuen Spielregeln verstanden einigen Berichten zufolge haben die Türken bereits ein Ausbildungslager angegriffen, wo die USA Kurden trainieren. Und angesichts dieser Situation ist es für die Türkei wichtig, die Unterstützung derjenigen Verbündeten zu erhalten, die ihr noch geblieben sind: Irans, vor allem aber Russlands.

Es scheint, als wäre es einfach, dies zu tun. Auf der einen Seite lehnt Moskau jede Destabilisierung des syrischen Territoriums ab, ganz zu schweigen von der Ausweitung der türkischen Kontrollzone in Nordsyrien (die unvermeidlich ist, wenn Ankara die kurdischen Milizen besiegt). Andererseits sind die Kurden schon seit Jahrzehnten nicht mehr die Favoriten Russlands. "Die türkische Operation im Norden Syriens ist eine Angelegenheit der USA, nicht Russlands. Moskau hatte schon immer gute Beziehungen zu den Kurden, doch die Zeiten der Mahabad-Republik sind vorbei, als der Kreml auf die Kurden setzte, um ihre Staatlichkeit zu sichern. In Syrien verteidigte Moskau die territoriale Integrität und Souveränität des Landes und spielte daher stets die Rolle des Vermittlers zwischen den Kurden und den anderen Konfliktparteien", sagt Suponina.

Normalerweise wird die Unterstützung durch eine Art Austausch erreicht: Russland gibt in einem Punkt nach, die Türkei in einem anderen. Dieses Mal war Erdoğan (der glaubt, dass Russland isoliert und seine Verhandlungsposition begrenzt sei) offenbar nicht gewillt, Zugeständnisse zu machen.

"Erdoğan, der mit Kritik an der Operation im Norden Syriens rechnete, beschloss vorzuwarnen und seine eigenen Ansprüche vorzubringen. Allerdings liegt es auf der Hand, dass Russland sein Versprechen, die Sicherheit in den kontrollierten Gebieten in Nordsyrien zu gewährleisten, vollständig erfüllt hat. Was aber die Türkei und ihre Verpflichtungen betrifft, so gibt es einige Beanstandungen.

Unter anderem ist es den Türken nicht gelungen, extremistische Gruppierungen in der Provinz Idlib zu entwaffnen. Entweder kann die Türkei dieses Problem nicht lösen, oder dieser Verdacht schleicht sich manchmal ein sie will es nicht vollständig lösen. Wobei das Problem von großer Bedeutung ist, denn in der Provinz Idlib befinden sich nicht einfach Extremisten, sondern terroristische Organisationen. Darunter die verbotene Gruppe Dschabhat an-Nusra", sagt Suponina.

Infolgedessen läuft Ankara Gefahr, mit seinem Epos Kurdistan allein zu bleiben Iran, das nun seinerseits die irakischen Kurden bombardiert, betrachtet die Türkei als regionalen Rivalen und hätte nichts gegen ein Scheitern Erdoğans. Ein Misserfolg, der unausweichlich ist, wenn der türkische Präsident die Beziehungen zu Moskau nicht mehr im Griff hat.

"Die Risiken einer regionalen Konfrontation nehmen wieder zu. Wer profitiert davon? Die Vereinigten Staaten. Sie benötigen eine neue Eskalationsrunde, um alles zu zerstören, was entlang der Linie Moskau-Ankara-Teheran aufgebaut worden ist. Ich schließe nicht aus, dass es ihnen gelingen wird. Obwohl man es nicht möchte. Der Einsturz eines einzigen Bausteins führt zum Einsturz eines großen Teils eines so mühsam errichteten Gebäudes. Haben die Türken die Risiken gut abgewogen?", fragt Awatkow. Und es ist keineswegs eine rhetorische Frage.

Geworg Mirsajan ist ußerordentlicher Professor an der Finanzuniversität der Regierung der Russischen Föderation, Politikwissenschaftler und eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens. Geboren wurde er 1984 in Taschkent. Er machte seinen Abschluss an der Staatlichen Universität in Kuban und promovierte in Politikwissenschaft mit Schwerpunkt Vereinigte Staaten. Er war von 2005 bis 2016 Forscher am Institut für die Vereinigten Staaten und Kanada der Russischen Akademie der Wissenschaften.

Übersetzt aus dem Russischen.

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