Meinung

Graue Armee Fraktion oder: kann man Verräter verraten?

Ganz großes Theater heute, das gibt bestimmt ein halbes Dutzend Sondersendungen und einige Wochen Nachrichtenbeschallung, die erfolgreich vom erblühenden Elend ablenkt. Eine Truppe Senioren, die fast die Ampel abgestellt hätte. Ein deutsches Wintermärchen.
Graue Armee Fraktion oder: kann man Verräter verraten?Quelle: www.globallookpress.com © Boris Roessler

Von Dagmar Henn

Wenn ein Sachverhalt die Bezeichnung "Verschwörungserzählung" verdient hat, dann ist es dieser hier. Schon allein, dass dreitausend Polizisten aus unterschiedlichsten Strukturen, vom BKA über die Bundespolizei über die Landeskriminalämter bis zu Sondereinsatzkommandos, ausgeschickt werden, um, noch dazu in Begleitung von Dutzenden Journalisten, eine höchst heterogene Gruppe von Leuten festzunehmen, ist eigenartig. Denn wenn diese Gruppe so gefährlich wäre wie unterstellt wird, dann wäre bei dieser Art Großveranstaltung das Risiko viel zu hoch, dass die Verschwörer vorab vom geplanten Einsatz erfahren.

Was bisher vorgelegt wird, klingt auch höchst seltsam, weil die vermeintliche Verschwörertruppe politisch nicht auf einen Nenner zu bringen ist. Gut, man kann es sich vorstellen, dass ein Angehöriger einer Adelsfamilie Fantasien pflegt, Deutschland wieder ins Kaiserreich zurück und sich selbst wieder in Besitz ehemaliger Güter zu bringen. Wie das allerdings zu einem ehemaligen Kriminalpolizisten passt, der auf Corona-Protesten gesprochen hat, bei denen die politische Hauptaussage immer war, das Grundgesetz erhalten zu wollen, eine Rückkehr in den Feudalismus also nicht gewünscht wurde, ist fragwürdig. Wie dazu die "Reichsbürger" passen sollen, oder gar eine amorphe Bewegung und warum das alles dann rechtsradikal und eine Bedrohung sein soll ...

Die Generalbundesanwaltschaft erklärt, es ginge um die Gründung einer terroristischen Vereinigung. Die Begründung für diese juristische Einstufung lautet, "einzelne Mitglieder haben sich mit Überlegungen getragen, gewaltsam in den Bundestag einzudringen", so Generalbundesanwalt Frank in seiner minimalistischen Pressekonferenz.

Dabei gibt es bereits in den Presseberichten zu genau diesem Punkt eine interessante Ergänzung. "Allerdings verstrichen nach SPIEGEL-Informationen mehrere Tage, an denen die Gruppe eigentlich hatte losschlagen wollen, ohne dass sie militante Aktionen unternahm."

Vermutlich hatten sie Schwierigkeiten damit, die Maschinengewehre auf die Rollatoren zu montieren. Überraschend ist nämlich die Altersstruktur dieser gefährlichen terroristischen Gruppe: Die Berliner Richterin und ehemalige AfD-Bundestagsabgeordnete Birgit Malsack-Winkemann ist mit ihren 58 Jahren eine der Jüngsten. Das vermeintliche Oberhaupt der Truppe, Heinrich Reuß, ist 71, und auch der als Beleg für die militärischen Fähigkeiten der Truppe erwähnte (und angeblich als Verteidigungsminister vorgesehene) ehemalige Fallschirmjägerkommandeur Rüdiger von P. zählt bereits 69 Lenze. Sehr bedrohlich klingt diese Graue Armee Fraktion nicht.

Den Bundestag zu stürmen, um dort dann Abgeordnete und Regierungsmitglieder festzunehmen … das klingt auch nicht wirklich nach einem überzeugenden Plan für einen Umsturz. Schon allein deswegen, weil entweder nur wenige Abgeordnete und Regierungsmitglieder da sind, oder aber zu viele. Weil man außerdem Regierungsmitglieder auf einer anderen Veranstaltung namens Kabinettssitzung praktisch gebündelt vorfinden kann, diese aber nicht im Reichstag stattfindet. Obendrein klingt die ganze Nummer ohnehin eher symbolisch und das Kanzleramt wäre dann doch ein passenderes Ziel  – aber gut, man sollte von einer Truppe älterer Herrschaften nicht zu viel erwarten. Vielleicht ging es ja eher um eine symbolträchtige Geiselnahme, eine Art Selbstmordkommando?

In Wirklichkeit klingt das eher nach einer zweiten Auflage des berüchtigten "Sturm auf den Reichstag", der damals während der Querdenker-Demo stattfand, um zu belegen, dass das alles böse Nazis sind; eine Aktion, die für jeden, der die Örtlichkeiten und das Bewachungssystem des Bundestags kennt, derart erkennbar orchestriert war, dass es schon schmerzte; was leider nicht verhinderte, dass nach wie vor viele die Geschichte glauben. Das Modell wurde danach erfolgreich in die USA exportiert, mit dem vermeintlichen Sturm auf den Kongress am 06. Januar 2020. Allerdings wurde es auch dort nicht glaubhafter ausgeführt.

Seit vergangenem November soll die Truppe an ihrem brillanten Plan gearbeitet haben, aber "der Verfassungsschutz hatte bereits vor Monaten eine Taskforce für den Fall eingesetzt", so der Spiegel. Ganz sicher nur zur Beobachtung? Und nicht den einen oder anderen Agent Provocateur in die Gruppe geschleust, nur um auf Nummer sicher zu gehen?

In Baden-Württemberg wurden, laut Spiegel, "30 Objekte durchsucht", und es ging dabei "gegen Personen", die "im Zuge der Corona-Pandemie Ärzte öffentlich diffamiert und bedroht" hätten. Was das mit einem Sturm des Reichstagsgebäudes zu tun haben soll, bleibt offen; die Verbindungen zwischen den verschiedenen Personengruppen werden nur behauptet. Aber in den vergangenen Jahren wurden in Dutzenden Fällen Verbindungen behauptet, wenn sich Personen überhaupt nur einmal begegnet waren.

Auch die gesamte Konstruktion der "rechtsextremen Reichsbürger" bleibt zweifelhaft. Die Welt schreibt aktuell dazu: "Die Behörde rechnet der Szene rund 21.000 Anhänger zu. Etwas mehr als tausend von ihnen gelten zudem als Rechtsextremisten." Betreiben wir ein wenig Mathematik. Tausend von zwanzigtausend, das ist einer von zwanzig oder fünf Prozent. Es gab einmal (zugegeben, noch in der alten Bundesrepublik) die SINUS-Umfrage, die 13 Prozent der Bevölkerung ein "geschlossenes rechtsextremes Weltbild" attestierte. In der Gesamtbevölkerung wäre danach der Anteil mehr als doppelt so hoch wie unter den Reichsbürgern. Nebenbei bemerkt, das zentrale Argument, anhand dessen jemand als "Reichsbürger" einsortiert wird, die Überzeugung, Deutschland habe keine Verfassung, beruht zudem schlicht auf Tatsachen – außer, man erachtet die Verfassung der DDR als nach wie vor gültig. Das Grundgesetz hätte schließlich zum Zeitpunkt der Wiedervereinigung ersetzt werden müssen und wurde nie durch ein Plebiszit legitimiert.

Selbst wenn man davon ausgehen will, dass sich um Herrn Heinrich Reuß eine Gruppe von Monarchisten gebildet haben soll, und wenn man gleichzeitig der Behauptung folgt, dass sich um diese herum rechtsextreme Reichsbürger befunden hätten, wie passt da der ehemalige Kriminalbeamte und Corona-Kritiker hinein?

Nach Aussagen der Welt war der Polizist "bereits 2020 vom Dienst entbunden worden, da er in einer Rede auf einer solchen Demonstration die damaligen Corona-Regeln mit dem Nationalsozialismus parallelisierte." Vielleicht ist es den deutschen Behörden entgangen, aber das war nicht als Lob gedacht. Oder andersherum, wenn jemand bei öffentlichen Auftritten Maßnahmen mit Nazimethoden vergleicht, um sie zu kritisieren, dann mag man ihm zwar vorwerfen, die Kritik überzogen zu haben, aber mit Sicherheit nicht, Nazimethoden begrüßt zu haben. Wie soll dann diese Person mit anderen Personen, die, nach Aussage der Bundesanwaltschaft, "eine tiefe Ablehnung der staatlichen Institutionen und der freiheitlich-demokratischen Grundordnung" verbindet, nicht nur kooperieren, sondern sich sogar verschwören?

Leider hat sich bereits jetzt die gesamte politische Szene der Erzählung angeschlossen, von Bernd Riexinger von der Linken bis hin zum Fraktionsvorstand der AfD. Es ist der alte bundesdeutsche Reflex, sich sofort distanzieren zu wollen, ohne erst einmal zu bedenken, ob die ganze Geschichte überhaupt der Wahrheit entspricht. Und inzwischen deuten einzelne Erklärungen sogar an, in welche Richtung sich das ganze Theater bewegen dürfte: Es gebe viele Reichsbürger, die als Mitglieder in Schützenvereinen oder als Jäger Waffen besäßen … dies die Aussage des Thüringer Innenministers, der damit im Grunde bereits angekündigt hat, dass die Beendigung legalen Waffenbesitzes eines der angestrebten Ziele ist.

Wenn es noch irgendeinen Grund gäbe, einen Pfifferling auf die deutsche Justiz zu geben, man könnte sich auf den Prozess freuen. Denn es mag absonderlich sein, untereinander Regierungspositionen zu verteilen, ohne dass dafür eine reale Grundlage besteht, aber verboten ist das nicht. Es ist auch keine Straftat, sich ausgiebig darüber zu unterhalten, wie man den Bundestag erstürmen könnte, wobei jeder, der öfter als einmal in dem Gebäude war, weiß, dass das nicht über den Haupteingang geht. Man kann sich alle möglichen Dinge ausmalen, Fantasien spinnen, sogar Gesetzentwürfe schreiben, die man umsetzen würde, falls man die Regierung im Lotto gewänne; nichts davon ist strafbar. Erst konkrete Vorbereitungen zu Handlungen liefern einen Ansatzpunkt für das Strafrecht. Ansonsten ist das etwa so relevant wie die Betrachtung der Unterhaltung über die Entführung der Frau des Pilatus im Film "Das Leben des Brian".

Es könnte in einer krachenden juristischen Niederlage enden, wie im Reichstagsbrandprozess, den der bulgarische Kommunist Georgi Dimitroff, der der Beteiligung an dem Brandanschlag beschuldigt wurde, in eine Anklage der herrschenden Hitler Faschisten verwandelte. Eigentlich steht seit jenem Prozess fest, dass der Reichstagsbrand eine Inszenierung war, die dazu diente, politische Gegner zu verhaften und zu ermorden. Jedoch wird in der Bundesrepublik noch heute die alte Lüge der Nazis wiederholt und das gescheiterte Verfahren verschwiegen. Diese ganze Nummer riecht ein wenig nach brennendem Reichstag.

Die Justiz in Deutschland wandelt aber schon seit einiger Zeit auf seltsamen Wegen, und es ist fraglich, ob eine solche Verteidigung zugelassen würde. So bizarr die Anklage ist, sie hat zur Folge, dass nicht nur besondere Haftbedingungen in Kraft gesetzt werden, sondern dass auch die Verfahren selbst, wenn es dann dazu kommt, unter den Bedingungen der Anti-Terror-Gesetze geführt werden können. Dies schließt die Möglichkeit mit ein, die Öffentlichkeit vom Verfahren auszuschließen.

Die Motivation, die Legende vom gefährlichen Reichsbürger wieder aufzukochen, ist leicht durchschaubar. Es wird Winter, das Vertrauen in diese Bundesregierung nähert sich ebenso dem Gefrierpunkt wie die Außentemperatur, aber um gegen die Proteste vorgehen zu können, muss die Rechtfertigung neu aufgefrischt werden. Und wenn man sich selbst tagtäglich in rassistischer Kriegslüsternheit ergeht und demokratische Rechte auf homöopathische Dosen runter verdünnt, dann ist es hilfreich, wenn nicht gar notwendig, auf irgendjemand anderen als den "Nazi" deuten zu können. Die eigene Verbrüderung mit jenen aus der Ukraine soll ja nach Möglichkeit nicht zum Thema werden.

Die Erklärung der Bundesanwaltschaft enthält einen Satz, der noch ein Motiv erahnen lässt. "Die weiteren Ermittlungen dienen auch zur Feststellung, ob der Straftatbestand der Vorbereitung eines hochverräterischen Unternehmens gegen den Bund (§ 83 Abs. 1 StGB) verwirklicht wurde." Wenn man sich der Fantasie einer Variante Reichstagsbrandprozess hingeben wollte, ist dieser Satz besonders ergiebig. Denn er eröffnet ein juristisches Dilemma: kann man überhaupt Hochverrat an einer Regierung begehen, die selbst Hochverrat begangen hat?

Nach all den Manövern, die sich jetzt bereits abzeichnen, und die auf allgemeine Diskreditierung von Protesten und eine Begründung zur gewaltigen Ausweitung der Repression zielen (wobei es natürlich hilft, dass Heinrich Reuß auch noch eine russische Lebensgefährtin hat), gibt es die ganz reale Frage einer Bundesregierung, die ihr Land verraten hat, sichtbar im Interesse einer fremden Macht, nämlich den Vereinigten Staaten. Es ist ein Verrat, der massivste Auswirkungen auf den Lebensalltag der Deutschen hat, zu massenhafter Verarmung und womöglich zu dauerhafter Verelendung führt. Eine Situation, in der sich objektiv die Frage stellt, ob es irgendwelche Kräfte gibt, die sich dieser Entwicklung wirkungsvoll entgegenstellen können.

Es geht nicht nur darum, Demonstrationen unmöglich zu machen oder alle legalen Waffen bei allen einzusammeln, die vielleicht mit dieser Politik des Ruins nicht einverstanden sein könnten. Die konstruierte Mischung, aus der sich diese vermeintliche Terrorgruppe zusammensetzen soll, ist wie das Zerrbild des Bündnisses, das es tatsächlich bräuchte, um den realen Verrat aufzuhalten. Ein Bündnis, das sich historisch an Strukturen wie dem Nationalkomitee Freies Deutschland oder der Zusammenarbeit des deutschen Widerstands von Konservativen bis zur Roten Kapelle orientieren müsste.

Es wird ein Popanz aufgebaut, der dem, was zur Rettung der Nation erforderlich wäre, ähnlich genug sieht, um einerseits einschüchtern und andererseits doch ins Lächerliche ziehen zu können. Man könnte schon heute Wetten darauf abschließen, dass in der weiteren Fortsetzung des Manövers die "europäischen Werte" mitsamt der "Solidarität", ob transatlantisch oder pro ukrainisch, gegen eine bizarre Karikatur eines Patriotismus gesetzt werden, den das Land dringend bräuchte. Die Truppe, die da hervorgezaubert wurde, soll nicht nur den "Nazi" liefern, der den Blick von den wirklichen Faschisten ablenkt, sondern auch den "Verräter", der den wirklichen Verrat unsichtbar werden lässt. Und der Anteil der Menschen in Deutschland, die es sich zur Angewohnheit machen, die regierungsamtlichen Erzählungen zumindest auf Plausibilität zu überprüfen, wächst zwar stetig, aber im Verhältnis zur Entwicklung der Ereignisse nach wie vor zu langsam.

Mehr zum Thema - Uli Gellermann: Verrat an der Nation – Der kalte Kriegswinter 2022

RT DE bemüht sich um ein breites Meinungsspektrum. Gastbeiträge und Meinungsartikel müssen nicht die Sichtweise der Redaktion widerspiegeln.

Durch die Sperrung von RT zielt die EU darauf ab, eine kritische, nicht prowestliche Informationsquelle zum Schweigen zu bringen. Und dies nicht nur hinsichtlich des Ukraine-Kriegs. Der Zugang zu unserer Website wurde erschwert, mehrere Soziale Medien haben unsere Accounts blockiert. Es liegt nun an uns allen, ob in Deutschland und der EU auch weiterhin ein Journalismus jenseits der Mainstream-Narrative betrieben werden kann. Wenn Euch unsere Artikel gefallen, teilt sie gern überall, wo Ihr aktiv seid. Das ist möglich, denn die EU hat weder unsere Arbeit noch das Lesen und Teilen unserer Artikel verboten. Anmerkung: Allerdings hat Österreich mit der Änderung des "Audiovisuellen Mediendienst-Gesetzes" am 13. April diesbezüglich eine Änderung eingeführt, die möglicherweise auch Privatpersonen betrifft. Deswegen bitten wir Euch bis zur Klärung des Sachverhalts, in Österreich unsere Beiträge vorerst nicht in den Sozialen Medien zu teilen.