Meinung

Wollen die Europäer wirklich mehr Zensur?

Eine neue Studie von Bertelsmann soll das angeblich belegen. Wenn man diese Studie allerdings wirklich liest, kann man auch zu einem völlig anderen Schluss kommen. Denn selbst jene, die mehr Zensur begrüßen, wollen völlig Unterschiedliches zensieren...
Wollen die Europäer wirklich mehr Zensur?Quelle: www.globallookpress.com © IMAGO/Eventpress Kochan

Von Dagmar Henn

Das, was die Bertelsmann-Stiftung antreibt, in eine bestimmte Richtung zu agieren, lässt sich nicht immer eindeutig erkennen. So dürften sich die unmittelbaren finanziellen Interessen an einer Privatisierung des Gesundheitswesens, die Bertelsmann gern mit entsprechenden Studien fördert, in den Tiefen irgendwelcher Beteiligungsgesellschaften der Familie Mohn verborgen sein. Unter den Beteiligungen der Bertelsmann-Stiftung finden sich nur mittelbare Profiteure, wie die Verwaltungs- und Inkassodienstleister Arvato und Infoscore.

Mit der neuesten Studie zum Thema "Desinformation" hat die Stiftung aber eine eindeutige Absicht zu erkennen gegeben. Schließlich lautet die Empfehlung am Ende, die gesamte Medienlandschaft "unabhängig" beobachten zu lassen; anders gesagt, man konstruiert sich mithilfe einer Umfrage eine Mehrheit für eine stärkere Zensur und bietet sich dann selbst als Zensor an. Immerhin spricht hier einer der weltgrößten Medienkonzerne.

Die Mainstreammedien greifen die Vorlage begeistert auf und jubeln, wie die – übrigens zum Bertelsmann-Konzern gehörende – Zeit: "EU-Bürger wünschen sich laut Studie mehr Maßnahmen gegen Fake News". Oder das ZDF: "Mehrheit verunsichert (…) Viele wünschen sich mehr Maßnahmen."

Dabei ist der ganze Aufbau dieser Studie, die auf einer europaweiten Internet-Umfrage beruht, weshalb die Validität sämtlicher Aussagen ohnehin davon abhängt, ob die Berechnungen, an denen die doch von der Allgemeinheit abweichende Gesamtmenge der Menschen, die im Internet an Befragungen teilnehmen, etwas taugen. Was man von außen, als Leser der Studie, nicht beurteilen kann, denn kein derartiges Unternehmen wird seinen Korrekturalgorithmus bekannt geben. Das ist schließlich das Instrument, mit dem das Geld verdient wird.

Die öffentliche Wiedergabe dieser Studie jedenfalls tut so, als wäre der Begriff "Fake News" oder "Desinformation" eindeutig bestimmt. Was aber nur insofern zutrifft, als dass damit wissentliche Fehlinformationen bezeichnet werden. Aber was sind nun die Fehlinformationen?

In weiten Kreisen der deutschen Medien gilt beispielsweise nach wie vor ein Verweis auf den Laptop von Hunter Biden als Desinformation, wenn nicht gleich direkt als "russische Propaganda", während das nachweislich gefälschte Steele-Dossier gern als Wahrheit zitiert wird. Von den stetigen Gefechten um die Informationen Russland und die Ukraine betreffend braucht man da gar nicht erst zu reden.

An diesem Punkt ist die Studie allerdings durchaus ehrlicher, als sie in ihrer medialen Darstellung scheint. Es gibt nämlich eine Frage, die einen Bruch aufzeigt. Es wurde gefragt, ob "der Ukrainekrieg ein Angriff auf Europa" sei. Abgesehen davon, dass die Bejahung dieser Frage schon einen ziemlich extremen bellizistischen Standpunkt voraussetzt – interessant ist das Ergebnis, wenn die Antworten darauf in Verbindung mit anderen Fragen gesetzt werden. So sind 51 Prozent der Bellizisten häufig oder sehr häufig unsicher bei Informationen im Internet, aber 59 Prozent der Nicht-Bellizisten; häufig oder sehr häufig Desinformation nehmen 37 und 45 Prozent wahr; eine stärkere Bekämpfung der Verbreitung von Desinformation durch die Politik wollen 91 oder 75 Prozent, und eine Bekämpfung von Desinformation durch die Plattformen 93 oder 81 Prozent.

Das Problem: Das, was die Bellizisten für Desinformation halten, ist die Wahrheit der Nicht-Bellizisten und umgekehrt; die Erwartungen sowohl gegenüber der Politik als auch gegenüber den Plattformen geht in exakt entgegengesetzte Richtung.

Was auch deutlich das Problem sichtbar macht, das sich hinter einer derartigen Verwendung des Begriffs "Desinformation" verbirgt. Aus diesen Ergebnissen gleich einen europaweiten Auftrag der Bürger zu stärkerer Zensur abzuleiten, wie die Berichterstattung das tut, ist wirklich kühn. Denn die große Mehrheit, die sich für ein Vorgehen gegen Desinformation findet, zerfällt in zwei antagonistische Teile.

Die zweite Frage, die ähnliche Unterschiede aufzeigt, ist schon aufgrund der Fragestellung nicht aussagekräftig, weil dort nur die Varianten "Die EU tut genug gegen den Klimawandel" und "Die EU tut nicht genug gegen den Klimawandel" aufgelistet werden. "Welcher Klimawandel?" wurde nicht angeboten.

Eher anekdotisch relevant sind die kulturellen Unterschiede, die sich zwischen Altersgruppen, Ländern und den Nutzern verschiedener Plattformen zeigen, wenn es um die Reaktionen mit Informationen geht, die für Desinformation gehalten werden.

In der Umfrage wurden vier Handlungsoptionen angeboten: das Eingeständnis, schon einmal falsche Informationen geteilt zu haben, die Meldung beim Plattformbetreiber, einen Hinweis an den Verbreiter der Information und eine eigene Überprüfung der Information.

Nicht überraschend, dass die Zahl derjenigen, die selbst überprüfen, mit dem Bildungsstand steigt. Die meisten Meldemuschis gibt es in Belgien und Polen, mit 28 beziehungsweise 27 Prozent, Deutschland liegt mit 17 Prozent ganz unten. Andererseits liegt der Anteil derjenigen, die selbst recherchieren, in Polen mit 60 Prozent am höchsten, mit 37 Prozent in Frankreich am niedrigsten. Interessanterweise erwiesen sich diese Handlungen als einander weitgehend ausschließend – wer meldete, recherchierte nicht und benachrichtigte nicht und umgekehrt.

Junge Nutzer recherchieren mit 54 Prozent weit häufiger als über 60-Jährige mit 34 Prozent, melden aber mit 35 Prozent mehr als viermal so häufig wie Letztere mit 8 Prozent. Ältere nutzen eher Facebook, Junge sind auf Instagram und TikTok unterwegs, Facebook ist mit 85 Prozent in Polen beliebter als in Deutschland mit 51, Twitter punktet, wie WhatsApp, vor allem in Spanien, und die meisten Telegram-Nutzer gibt es in Italien mit 29 Prozent. Ansonsten nutzen in ganz Europa fast drei Viertel der Befragten zwei oder mehr Plattformen. Telegram- und Twitter-Nutzer nehmen besonders häufig Desinformation wahr, Twitter-Nutzer halten die Spitzenposition unter den Meldemuschis, gefolgt von Telegram, haben aber ebenso mit großem Abstand die Spitzenposition unter den Rechercheuren. Das sind alles Informationen, die im Grunde eher Detailhinweise an die Regierungen darstellen, welche Zensurstrategie auf welcher Plattform erfolgreich sein könnte, denn ansonsten ist der Nutzen einer Wahrnehmung unterschiedlicher Kommunikationskulturen auf den unterschiedlichen Plattformen eher anekdotisch.

Die Frage, wie zufrieden die Befragten mit der Demokratie in ihrem Land seien, ist einer der Punkte, die am Korrekturalgorithmus zweifeln lassen. Eine Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung kam im April zwar nur auf etwas niedrigere Werte bei der Zufriedenheit, doch auf eine deutlich höhere Unzufriedenheit in Deutschland, als die Bertelsmann-Studie. Wie auch immer, interessant ist dann der nächste Schritt. Diejenigen, die jeweils mit der Demokratie im eigenen Land unzufrieden sind, nehmen wesentlich häufiger Desinformation wahr als jene, die zufrieden sind.

Das bestätigt unter einem anderen Blickwinkel das Ergebnis, das sich bei der Ukraine-Frage fand – es sind eher die der augenblicklichen Politik gegenüber Kritischen, die Desinformation finden. Was im Grunde ein klarer Hinweis darauf ist, dass gerade jene Informationen als Desinformationen gesehen werden, die von den Regierungen und Tageszeitungen/Fernsehen besonders betont werden.

"Die Wahrnehmung von Desinformation (...) kann ebenso Ausdruck eines reflektierten und kundigen Umgangs mit Informationen sein wie eines grundsätzlichen Misstrauens in mediale Informationen und gesellschaftliche Institutionen."

Womöglich, das ist die Aussage, um die die Studie herumeiert, ist sie beides zugleich, oder vielmehr – das grundsätzliche Misstrauen könnte ein Ergebnis eines reflektierten und kundigen Umgangs mit Informationen sein. Dies direkt zu sagen, würde allerdings den materiellen Zweck der Studie sabotieren.

Schließlich sollen die Handlungsempfehlungen am Ende möglichst einige öffentliche Aufträge abwerfen. Wie das "systematische Monitoring des Phänomens Desinformation in Deutschland sicherstellen". Gleich diese erste Empfehlung übergeht gerade den zentralen Punkt. Ebenso die Zweite: "Angebote zu unterbreiten, wie sich die Bürger verlässlich informieren können". Das haben wir alles schon, einschließlich eines berüchtigt kreativen Faktenchecks der Tagesschau mit pflanzenförmigen Sprengstoffen.

"Vertrauenswürdige Quellen von verdächtigen Absendern zu unterscheiden, Meinungen von Fakten zu trennen und zu erkennen, wo möglicherweise Informationen falsch oder verzerrt dargestellt werden, sind essenzielle Kompetenzen, die möglichst viele Menschen beherrschen sollten."

Tja, ein halbes Jahr lang hat eine ganze Reihe deutscher Qualitätsmedien im Jahr 2014 behauptet, von Mariupol ginge eine Landbrücke zur Krim, nur weil Frank-Walter Steinmeier, damals Außenminister, das einmal gesagt hatte. Ein einziger Blick auf eine Landkarte hätte sie eines Besseren belehrt. Oder noch so eine Behauptung aus der damaligen Zeit: Die "Separatisten" müssten gemäß der Minsker Abkommen erst die Kontrolle über die Grenze nach Russland an Kiew übergeben, und dann sei erst eine Verfassungsänderung erforderlich. In Wirklichkeit war die vorgegebene Reihenfolge umgekehrt. Das sind nur zwei relativ leicht überprüfbare Beispiele von monate- oder jahrelang aufrechterhaltenen Falschinformationen, die so leicht zu überprüfen waren und sind, dass man einen unabsichtlichen Fehler fast völlig ausschließen kann.

Dagegen hilft aber keine Liste, die irgendeine Version eines Wahrheitsministeriums aushändigt, auf der dann die "vertrauenswürdigen Quellen" verzeichnet sind. Es führt kein Weg daran vorbei, die Quellen selbst zu bewerten oder sich zumindest einen gewissen Grundstock an Quellen zuzulegen, die man länger beobachtet und gründlicher überprüft hat.

Der entscheidende Punkt ist, die Kriterien zu erlernen, an denen man manipulative Absichten erkennt. Den Trick mit "Regime" statt Regierung beispielsweise gebrauchte schon Goebbels. Übrigens sind Meinungstexte weitgehend ungefährlich; kritisch sind die vermeintlich neutralen Meldungen, in die die "Haltung" über Schlüsselworte wie "Regime", emotionale Untertöne und manipulative Reihung eingeschmuggelt wird. So etwas müsste man in der Schule lernen. Allerdings wird das mit Sicherheit nicht geschehen, und auch Bertelsmann wird dafür keinen Auftrag einheimsen können, denn das würde echte Mündigkeit im Umgang mit Informationen bedeuten, was für Medien wie die Tagesschau katastrophal enden würde und sicher nicht im Sinne der NATO ist.

Und nun die letzte "Handlungsempfehlung": "Konsequente und transparente Inhaltsmoderation auf digitalen Plattformen sicherstellen." Kein Rezept, das funktioniert, wenn klar ist, dass auch jener Teil des Publikums, der mehr Überwachung der Inhalte begrüßen würde, damit mitnichten dasselbe meint.

Weiter oben stand ein durchaus vernünftiger Satz:

"Was wahr und richtig ist, ist eben gerade nicht immer sofort offensichtlich. Aber immer deutlicher wird, dass es für ein gelingendes gesellschaftliches Miteinander die Einigung auf ein paar grundlegende Maßstäbe braucht, um Verständigung zu ermöglichen."

Mit der Schlussfolgerung, es bräuchte "die wissenschaftliche Überprüfung und Einordnung von Informationen", steht der Autor aber schon wieder tief im Wald. Denn sowohl bei Corona als auch beim "Klima" wird beständig eine Wissenschaftlichkeit behauptet, die weder der genauen Überprüfung standhält, noch in irgendeiner Weise zur Lösung der gesellschaftlichen Frage beiträgt. Dafür könnte es im Grunde nur eine Antwort geben, eine breite Abrüstung der Denunziationsbegriffe wie "Klimaleugner" oder "Putintroll", sprich, eine Rückkehr zu der Haltung, dass der andere seine Meinung haben und äußern darf, auch wenn sie von meiner abweicht. Leider deutet die gesamte Entwicklung der letzten Jahre in genau die entgegengesetzte Richtung, und es bleibt nicht bei Begriffen; es folgen ihnen oft auch noch Strafverfahren oder Kündigungen.

Würde der Autor der Studie mit seinen eigenen Ergebnissen ehrlich verfahren, wäre die Konsequenz, die er aus den vorliegenden Daten ziehen müsste, eine Forderung, zu den Regeln einer demokratischen Debatte zurückzukehren. Aber er will und muss eine Dienstleistung verkaufen, die der Bertelsmann-Konzern bieten kann. Wirkliche Demokratie ist nicht im Angebot der Oligarchen.

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